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Regisseur Bruno Deville und Produzentin Pauline Gygax

31.07.2024

In Locarno feiert ESPÈCE MENACÉE Weltpremiere in der Sektion Fuori Concorso – eine sechsteilige Serie zum Schmunzeln und Nachdenken. Der Regisseur Bruno Deville und Produzentin Pauline Gygax von Rita Productions erzählen von den Dreharbeiten und den Herausforderungen vom Drehen in der Natur.

Worum handelt ESPÈCE MENACÉE?

Bruno Deville: Als tragikomische Spielfilmserie in sechs 45-minütigen Episoden, ist ESPÈCE MENACÉE vor allem eine Emanzipationsgeschichte, deren zentrales Thema die Frage nach unserer Fähigkeit, uns auf allen Ebenen zu verwandeln, und nach dem Bedürfnis nach Veränderung ist, was uns alle beschäftigt.  Die zunehmende Zahl von Therapien und Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung sind die tragikomischen Laboratorien dieses Wunsches nach Verwandlung. Diese Kreise, die von aussen betrachtet vielleicht lächerlich wirken, zeugen dennoch von einem Wunsch nach Veränderung. Angesichts des Klimawandels, oder um die Welt zu verändern, müssen wir vielleicht damit beginnen, uns selbst von innen heraus zu verändern. Wir wollten, dass sich diese Frage durch alle Figuren und ihre Anliegen zieht: Wie können wir uns verändern?  Wie wird man ein Paar, eine Familie, oder nicht? Wie wächst man in einer Freundschaft? Muss man sich selbst verlieren, um sich selbst zu finden?

Wie entstand die Idee zur Serie?

BD: Von einem Foto, das am 25. Dezember aufgenommen wurde: Das Bild eines stillstehenden Skilifts, grüner Rasen mitten im Winter; meine belgischen Freunde beschliessen, ihren Urlaub abzusagen. Ich glaube, es war 2017 oder 2018. Weihnachten ohne Schnee und die Absurdität, Schneekanonen zu betreiben, um uns Menschen bei Laune zu halten. Es hatte etwas von LES BRONZÉS NE FONT PLUS DE SKI, gleichzeitig ein wenig futuristisch, aber äusserst realistisch für die heutige Welt.

Ich bin auch ein grosser Fan von französischsprachigen Stand-up-Künstlerinnen und Chronisten wie Marina Rollman, Vincent Veillon, Vincent Kucholl, Thomas Wiesel und Yann Marguet. Ich liebe ihren poetischen und politischen Blick auf die Welt, der mit grosser Intelligenz und Humor durchscheint. Ich wollte die Rollen mit ihnen im Hinterkopf schreiben. Das Publikum kennt sie durch ihre Pointen in kurzen Formaten. Aber in diesem längeren Format wollte ich sie umherbewegen, um zu sehen, wie wir uns auf eine andere Weise mit ihnen verbinden können. Ich wollte, dass sie uns zum Lachen bringen, aber warum nicht auch zum Schaudern oder Weinen, um sie aus ihrer Komfortzone zu holen.

Haben Sie das Drehbuch mit mehreren Autor:innen geschrieben?

BD: Ich hatte mit Marina Rollman bereits bei der Serie DOUBLE VIE zusammengearbeitet, zu der sie Dialoge und Schauspielerei beisteuerte. Ich liebte ihre Kolumnen und ihren manchmal grausamen, nie moralisierenden Humor. Wir haben gerne zusammengearbeitet, und so schlug ich meinem langjährigen Freund Léo Maillard und Marina vor, dass wir als Trio weitermachen. Sie brachte viel frischen Wind in unser Duo, und wir befruchteten uns gegenseitig mit unseren Texten. Künstlerisch brauche ich den Atem des anderen, um mich zurückzuhalten, zusammenzustreichen und zu entscheiden. Wir sind intelligenter, wenn wir interagieren.

Wie kam die Zusammenarbeit mit RTS zustande? Mussten Sie viel diskutieren oder haben Sie sofort eine gemeinsame Basis gefunden?

Pauline Gygax: Wir sind es gewohnt, mit RTS an Serien zu arbeiten. ESPÈCE MENACÉE ist unsere fünfte Serie, die wir gemeinsam mit ihnen produzieren. Wir sind manchmal Komplizen, ärgern uns und flicken die Dinge dann wieder zusammen, denn schliesslich haben wir wohl alle dasselbe Ziel: Dem Publikum die bestmögliche Serie mit unserem oft knappen Budget zu bieten. In all den Jahren - unsere erste Serienkooperation geht auf das Jahr 2008 zurück - haben wir uns weiterentwickelt, Erfahrungen gesammelt und sind anspruchsvoller geworden.

Wurde die Serie bereits ausgestrahlt?

PG: RTS/SSR experimentiert mit einem neuen Ausstrahlungsmodell für diese Serie, die ab dem Tag der Premiere in Locarno, d.h. ab dem 10. August 2024, einen Monat lang auf der Streamingplattform PlaySuisse zu sehen sein wird. Anschliessend wird die Serie während der Zeit, in der die Handlung spielt, also während dem Karneval Ende Februar 2025, auf RTS ausgestrahlt.

Sind Serien in der Schweiz nur als Koproduktionen möglich?

PG: Lange war es kompliziert, Westschweizer Serien zu koproduzieren. Es gab die widersprüchliche Vorgabe, den Westschweizern von Westschweizern zu erzählen, indem man in der Romandie dreht, aber gleichzeitig genügend universell zu sein, um internationale Partner zu interessieren. Die Dinge haben sich geändert, es gibt jetzt viel mehr Möglichkeiten. Es liegt nun an uns, unsere Branche und unsere Talente in diesen Partnerschaften zu schützen. So wie wir es in der Kinobranche immer getan haben.

Von der Idee bis zur Premiere in Locarno: Wie lange hat es von der ersten Skizze bis zur fertigen Serie gedauert?

BD: Die erste Idee wurde im Winter 2020 geboren. Wir gewannen das RTS-Pitching im Oktober 2020 und schrieben die Serie im Februar 2023 fertig.
PG: Und parallel dazu begann im Herbst 2022 die Finanzierung, anschliessend die Vorbereitungen. Die Dreharbeiten dauerten über 50 Tage im Juni, Juli und August und schliesslich erfolgte die Postproduktion bis Juni 2024.

Gab es Überraschungen am Set, die dazu führten, dass das Drehbuch angepasst oder sogar Passagen gestrichen wurden? Oder Tricks, um Szenen nach einem Wetterumschwung zu retten?

PG: Der zeitliche Rahmen eines Seriendrehs ist an sich schon eine Herausforderung. Die meiste Zeit haben wir an natürlichen, offenen Sets gedreht, was eine echte Herausforderung war. Der Arbeitsplan hat sich je nach Wetterlage mehrmals geändert. So haben wir zum Beispiel mehrmals sehr früh am Morgen begonnen, weil der Wetterbericht für den späten Nachmittag Gewitter vorausgesagt hatte. So konnten wir versetzt drehen und diese Gewitter vermeiden.

BD: Der Berg ist eine Figur für sich. Der Eingriff des Menschen in die Natur, die Ausbeutung der Landschaft und die Frage des Wassers sind die zugrunde liegenden ökologischen Themen. Wir haben uns in diese natürliche Umgebung und ihre Paradoxien vertieft. Wir haben mit Farben und jahreszeitlichen Umkehrungen gespielt, um eine dystopische Note zu erzeugen. Das Bild der Pistenraupen auf Halbmast oder der Aletschgletscher, der von Menschen mit Planen bedeckt ist, um ihn vor seiner eigenen Schmelze zu schützen, die durch die touristische Übernutzung beschleunigt wird. Wir wollten starke Aussagen zu diesem Eingriff in die Natur machen, ohne eine These aufzustellen, aber immer mit dem Fokus auf den geschäftigen, verstrickten Menschen und seine Beziehungen.

PG: Technisch gesehen ist es eine Herausforderung für die Regie, so viele Figuren auf der Leinwand zu haben, aber auch für die Produktion. Eine Änderung des Arbeitsplans wirkt sich plötzlich auf viele Leute aus, nicht nur auf die Schauspieler, sondern auch auf alle beteiligten technischen und künstlerischen Mitarbeitende, vor allem auf die HMC (Haare, Make-up, Kostüm), die sich schnell umstellen müssen, oder auf das Setmanagement. Es ist ein echtes kollektives Abenteuer, das in unserem Fall dem gesamten Team grosse Anpassungsfähigkeit abverlangte, und das war hervorragend.

Welche Szene von den Dreharbeiten wird Ihnen unvergesslich in Erinnerung bleiben?

BD: Eine Szene am Rande eines Bergsees, eine Ode an das Leben, mit kleinen menschlichen Gesten. Es ist ein ungewöhnlicher, aber berührender Moment, der etwas Mystisches hat. Aber ich will nicht spoilern (lachend, Anm. d. Red.).

PG: Für mich ist es eine Szene, die mit der Hauptdarstellerin (Emilie Charriot) in einem gigantischen Sturm gedreht wurde, eine halb-improvisierte Szene von seltener Kraft, eine Kinoszene. Ein paar Momente davon sind im Schnitt erhalten geblieben. Finden Sie sie!

War von Anfang an klar, dass es sechs Episoden à 45 Minuten sein würden? Wie sind Sie auf dieses Format gekommen? War es eine gemeinsame Entscheidung von Ihnen, Léo Maillard und Marina Rollman?

BD: Das Konzept der Serie bestand von Anfang an darin, für eine «Truppe» von Komiker:innen aus der Westschweiz zu schreiben, die weit über unsere Grenzen hinaus bekannt sind. Eine chorische Erzählung war von entscheidender Bedeutung, ebenso wie der Ton der Komödie und der Rhythmus der Episoden, die die Dringlichkeit angesichts der Klimaveränderung unterstützen. Wir hatten den Wunsch, uns auf die Karnevalswoche zu beschränken (ein Tag = eine Folge) und wollten die Geschichte erzählen, wie sich das Leben vor dem Hintergrund dieses Festes, bei dem die Masken in einer Art verrückter Freiheit auf- und abgesetzt werden können, verändern kann. Wir haben dann mit dieser Einschränkung gespielt, die uns kreative Möglichkeiten bot, indem wir die Zeitlichkeit der Geschichte mit Rückblenden oder Flashbacks dekonstruierten, die Elemente der Zukunft oder der Vergangenheit heranzoomten, um mehr Licht auf die Gegenwart zu werfen.

Neben Serien ist Rita Productions auch regelmässig mit Filmen auf internationalen Festivals vertreten. Was ist der Hauptunterschied zwischen der Produktion einer Serie und eines Films? Gehen Sie als Produktionsfirma bei Serien mehr Risiken ein als bei Filmen? Ist es «einfacher», ein so grosses Serienprojekt zu realisieren?

PG: Der Hauptunterschied zwischen der Produktion einer Serie und der eines Films ist das Verhältnis zwischen Zeit, Formatierung und Anforderungen. Der enorme Wettbewerb, der bei der Filmfinanzierung herrscht, ist bei Serien viel geringer, die Spielregeln sind klarer und daher überschaubarer. Der Serienmarkt ist etwas klarer, und die Erwartungen sind es auch. Ich glaube immer mehr, dass diese beiden Welten viel voneinander lernen können. Hier in der Schweiz sind die beiden Welten sehr durchlässig, aber in den meisten anderen Ländern ist die Grenze sehr eng und die Menschen, mit denen man spricht, sind ganz anders. Einerseits könnte die Serienwelt von einer grösseren Nachfrage nach redaktionellen, visuellen und regietechnischen Fähigkeiten nur profitieren. Andererseits würde die Filmindustrie von einer grösseren Vielfalt an Gesprächspartnern, einer grösseren Klarheit in ihrer Beziehung zum Markt in einem sehr frühen Stadium ihrer Entwicklung, einer viel stärkeren Beziehung zur Realität, zum Konkreten und einer gewissen Bescheidenheit und Beweglichkeit profitieren. Diese beiden Welten nähern sich nun dank der Plattformen an, aber es handelt sich um eine ganz bestimmte Art von Kino, nicht unbedingt um das, was wir in der Westschweiz produzieren.

Ihre Serie ist voll von Humor. Gab es eine bestimmte Art von Humor, die nötig war, damit die Serie international funktioniert?

BD: Wir wollten auf eine ziemlich universelle Weise über die Menschheit als eine Spezies sprechen, die von sich selbst, ihrem System und ihren eigenen Schwächen bedroht ist. In einer Zeit, in der alles zusammenbricht, in diesem abgelegenen Skiort, in einer Zeit des Greenwashing, wollten wir eine engagierte Komödie schreiben. Um eine Art 'Trostgesellschaft' zu beschreiben, die etwas Neues schaffen möchte, ohne zu wissen, was oder wie, und natürlich, ohne ihre Privilegien zu verlieren...

In der Regie habe ich die Schauspieler dazu gedrängt, von sich selbst auszugehen, ohne zu imitieren oder zu signalisieren, dass wir die Leute zum Lachen bringen wollen. Ich mag diesen Ansatz der angelsächsischen Komödie. Wenn eine Art Wahrheit auftaucht, eine Ehrlichkeit in dem, was gespielt wird, dann wird es universell. Was könnte schärfer sein als die Komödie, um uns zum Nachdenken über unsere Paradoxien und Kompromisse anzuregen?

Gibt es also einen Unterschied zwischen schweizerischem und belgischem Humor?

BD: Was ich bei diesem Projekt gespürt habe, ist, dass der Humor sehr trennend ist. Wir lachen nicht alle über die gleichen Dinge, je nach Kultur und Geschichte. Humor ist trennschärfer als Drama. Es ist einfacher, sich gemeinsam zu bewegen, als über denselben Witz zu lachen. Auch wenn im Zeitalter der Netzwerke, des Internets und der Globalisierung der Humor, wie viele andere Dinge auch, Grenzen überschreitet.

Film ist ein schnelllebiges Geschäft. Woran arbeiten Sie im Moment?

BD: An einen Film, dessen Figuren inmitten einer existenziellen Krise darüber nachdenken, die Erde zu verlassen und zum Mars zu ziehen.

An welchen neuen Projekten arbeiten Sie?

PG: Abgesehen von dem nächsten Spielfilm, den Bruno gerade erwähnt hat, haben wir mehrere erste oder zweite Spielfilme in der Entwicklung oder in der Finanzierung, sowie weitere Spielfilmserien und Dokumentarfilme in der Entwicklung. Alles in allem ein Dutzend Projekte. Und erfahrungsgemäss können wir uns glücklich schätzen, wenn sieben oder acht davon verwirklicht werden. Das ist grausam, aber es ist auch die immer deutlicher werdende Realität in der Branche in ganz Europa.

Mit wem würden Sie am liebsten ein Projekt machen, wenn Sie es sich frei aussuchen könnten?

BD: Ich würde auf dem Mars drehen. Aber da ich Flugangst habe, reichen mir die Vororte von Brüssel. (er lacht, Anm. d. Red.)

PG: Ich würde alles mit Kristen Stewart produzieren. Sogar einen WINGO-Werbespot.

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