Beyond the Screen mit Marcel Vaid

Über erfolgreiches Komponieren im Sandkasten und gelungene Premieren

31.03.2025

Marcel Vaid komponierte die Musik zu BLAME von Christian Frei, dem diesjährigen Eröffnungsfilm der Visions du Réel. Am Schweizer Filmpreis in Genf wurde er für die Musik von LES PARADIS DE DIANE ausgezeichnet. Ein Gespräch über Neustarts, das Spielen im Sandkasten und Küchenrituale.

Du hast im März bereits zum fünften Mal den Schweizer Filmpreis für die beste Filmmusik erhalten. Warst Du trotzdem etwas nervös?

Ja, sehr! Es ist jedes Mal etwas Besonderes. Im Rampenlicht zu stehen ist für uns Filmkomponisten und Filmkomponistinnen eher ungewöhnlich, wir lieben es im Hintergrund zu wirken.

Was fasziniert die Jury an deinen Kompositionen?

Wenn ich zurückblicke, waren es immer mutige Kompositionen, die ausgezeichnet wurden; Musiken, die nach einer eigenen Sprache suchten, aber auch nah an der Geschichte waren. Ich bin der Überzeugung, dass die intensive Zusammenarbeit mit der Regie in meiner Musik spürbar ist und der Film ein musikalisches Äquivalent erhält, welches der Geschichte oder dem Thema eine neue Perspektive oder ein anderes Erleben erschliesst. Das hoffe ich zumindest.

Für Christian Freis Film «BLAME» hast Du die Musik geschrieben. Es war das erste Mal, dass Christian mit einem Komponisten zusammengearbeitet hat, richtig?

Genau. Aber man muss wissen, dass jedes Projekt eigentlich immer ein Neuanfang für die beteiligten Künstler darstellt. So gesehen muss auch ich jedes Mal einen Neustart wagen, bei Null beginnen. Jeder Film hat eine eigene DNA, ein noch zu entdeckendes, musikalisches Innenleben. Darum fühle ich mich jedes Mal wie ein Kind im Sandkasten.

Obwohl es für Christian das erste Mal war, ist er wohl der musikalischste Regisseur, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Er hat ein unglaubliches Gespür für aussergewöhnliche Klänge, Dissonanzen und musikalische Dramaturgie. Es geht eher darum, seine Künstler zu respektieren und zu fördern – oder zu fordern. Christians Filme zeugen von einem grossen Humanismus und Respekt vor dem Menschen und dessen Talenten. Ich habe viel gelernt in Bezug auf Dramaturgie, Rhythmus und wie man über Musik redet.

Ab wann bist Du in die Projekte involviert?

Das hängt vom jeweiligen Projekt ab. In einer meiner aktuellen Arbeiten, dem Spielfilm THE BLIND FERRYMAN von Ali Al-Fatlawi, war ich sogar bei den Probeaufnahmen im Irak anwesend. Der Regisseur wollte, dass ich die einzigartige Atmosphäre der Filmlocation kennenlerne, da diese einen grossen Einfluss auf die Figuren und deren Verhalten hat. Er hatte vollkommen recht; ich habe das Drehbuch nach dieser Erfahrung mit neuen Ohren und Augen gelesen. Zudem konnte ich neue Instrumente aus unterschiedlichen Materialien wie Holz oder Schilf mitbringen. Momentan sitze ich allein im Studio und bin am Ausprobieren. Wenn ich erste Vorschläge habe, zeige ich sie der Regie und wir haben eine Basis für weitere Diskussionen und hissen gemeinsam die Segel.

Bei DAVOS 1917 haben mein Ko-Komponist Adrian Frutiger und ich abends Rushes aus den laufenden Dreharbeiten erhalten und konnten so bereits ausprobieren und herumspinnen. Beim anstehenden Spielfilm WYLD von Ralph Etter habe ich einen fixfertigen Schnitt erhalten und kam erst am Schluss der Postproduktionsphase dazu.

An welchen Projekten arbeitest Du gerade?

In den kommenden Wochen werde ich die bereits erwähnten Arbeiten abschliessen. Anschliessend widme ich mich den Dokumentarfilmen HIGH NOON von David Sieveking und HEAT von Jacqueline Zünd, die sich derzeit noch in der Dreh- oder Schnittphase befinden.

Besonders gespannt bin ich auf die Arbeit an dem historischen Spielfilm EACH OF US, der u.a. unter der Regie von Stina Werenfels entsteht. Diese Vierländerproduktion, an der Polen, Spanien, Deutschland und die Schweiz beteiligt sind, spielt im Vernichtungslager Ravensbrück und erzählt die wahre Geschichte von vier internierten Frauen. In den Hauptrollen sehen wir u.a. Carla Juri und Diane Kruger. Die Musikrecherche im Kontext der Shoa-Thematik hat mich zutiefst elektrisiert und erschüttert. Die Fragen, die sich mir stellen, sind umfassend: Wie klingt Gewalt, Unterdrückung, Faschismus, Hoffnung, Mut? Was ist möglich, was verboten? Wo endet Kunstfreiheit, wo beginnt Respekt?

War dein Weg zum Filmmusiker von Anfang an klar?

Nein, eigentlich nicht. Ich wollte zwar immer schon Musiker werden, aber meine Lehrer und Lehrerinnen in der Grundschule und im Gymnasium meinten, das sei nur ein unsinniger Traum. Weil mir nichts anderes einfiel, begann ich ein Studium der Architektur an der ETH. Ich erkannte, dass ich fehl am Platz war und habe begonnen, mich auf die Musik zu konzentrieren und verdiente mein Leben als Teilzeitnachtportier und Übersetzer.

Ich kam eher zufällig und glücklich zum Film, obwohl ich schon immer cinephil war. Eine Produzentin war an einem Konzert meiner Experimental-Band Superterz und meinte, ich solle es doch mal im Film versuchen. Ich hatte da noch Gedichte von einem Schriftsteller vertont, was ziemlich abgefahren und lustig war: Die Musik hatte überhaupt kein Metrum oder irgendeine populäre Struktur, sie folgte einzig und allein dem dramaturgischen Inhalt der Lyrik – und dem Moment. 

Ich liebe das Kino. Ich habe noch immer einen DVD-Player in der Küche und höre mir beim Kochen einmal pro Tag einen Film an.

Und welche Filmkomponisten faszinieren Dich?

Als Filmkomponist bin ich sehr von der Klangvielfalt eines John McEntire beeinflusst oder der Transparenz und der Zurückhaltung des kreativen Künstler-Duos Philip Miller und William Kentridge, welche als Musiker und Regisseur jahrelang nah und intensiv gewirkt haben. Oder ich mag die Musik des verstorbenen Jóhann Jóhannsson oder von The Nine Inch Nails, welche aus der Industrial-Musik kommen. Diese Komponisten haben es geschafft, eine eigene Klanglichkeit zu entwickeln – und zu etablieren. Ihre Kompostionen zeigen oft musikalische Verwerfungen und klangliche Herausforderungen

Wie näherst Du dich Filmthemen und Genres an?

Für mich ist das Genre nicht von Bedeutung. Es ist möglich, einen Thriller oder einen Spielfilm als Dokumentarfilm zu drehen – und umgekehrt. Im Gegensatz dazu waren die animierten Passagen zum hybriden Animationsfilm CHRIS THE SWISS eher die inneren Welten des Hauptcharakters – Albträume oder Fantasien. Ich fragte die Regisseurin Anja Kofmel, wie diese Passagen klingen sollten. Sie meinte lediglich, dass sie auch keine Ahnung habe, sie habe noch nie einen Alptraum «gehört», und für jeden sei das wohl etwas anderes. So hatten wir ein grosses Spielfeld zur Verfügung.

Auf welchem Instrument entwickelst Du die Motive am liebsten?

Das ist sicher die elektrische Gitarre, da habe ich mehr Möglichkeiten, mich in meiner atmosphärischen Welt zu entfalten. Das Piano benutze ich eher für die harmonischen Strukturen – wenn ich überhaupt welche zustande bringe.

Mit wem würdest Du gerne einmal Filmmusik schreiben und für wen?

Für mich war es schon ein grosses Privileg, mit Christian Frei zu arbeiten. Ich muss gestehen, daran hatte ich wirklich nie gedacht. Ich würde gerne einen Film von Michael Hanecke vertonen, da ich weiss, dass er nie mit Komponisten gearbeitet hat. Die Herausforderung würde mich sehr interessieren. Auch haben seine Filme eine unglaubliche Wucht und einen inneren Sog, wie z.B. in CACHÉ. Jeder Film trägt meiner Meinung nach einen musikalischen Moment in sich. Die Filme von Werner Herzog waren von jeher eine grosse Inspiration für mich, irgendwo und irgendwann schält sich eine neue Begebenheit, eine neue Wendung heraus. Michael Mann ist unglaublich atmosphärisch, aber auch Barbet Schroeder, dem ich am diesjährigen Filmpreis begegnen durfte.

Kannst Du Ko-Komponieren weiterempfehlen?

Definitiv. Ich liebe es, mit tollen Musikern und Musikerinnen zusammenzuarbeiten. Jedes Mal öffnet sich mir eine neue musikalische Welt oder Herangehensweise, die ich nicht gekannt habe. Es ist eine grosse Bereicherung, in einem Team an einem grossen Ganzen zu arbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und zu inspirieren. Das ist ja das Schöne an der Filmmusik, dass man nicht allein ist.

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