Talking to... Sinan Taner

Der Filmemacher über die Reisen mit seinem Abschlussfilm 1:10 und wo über welche Szenen gelacht wird

12.06.2025

Der Filmemacher Sinan Taner hat mit seinem Kurzfilm 1:10, den er als Bachelorfilm an der ZHdK gedreht hat, bereits eine beachtliche Festivalkarriere gemacht. Nun wurde er von der European Film Promotion für das Talentprogramm FUTURE FRAMES auf dem Karlovy Vary International Film Festival selektioniert. Zehn junge Regietalente erhalten dort die Gelegenheit, ihre Kurzfilme der internationalen Branche zu präsentieren und an Master Classes und Workshops teilzunehmen.

«1:10» reiste an das renommierte Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand und lief unter anderem in Istanbul, San Francisco, Busan oder Lissabon. Wie ist das für dich, deinen Film an so vielen Festivals zu präsentieren?

Es freut mich sehr, dass ich ihn in so vielen unterschiedlichen Ländern zeigen darf. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht gedacht, dass diese Geschichte um die Welt reist, denn sie erzählt von einem sehr spezifischen Ereignis aus meiner eigenen Kindheit. Umso mehr freut es mich, wenn sich die Geschichte auch auf andere Kulturen übertragen lässt. Insbesondere da sie auch vom Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen erzählt.

Bist du oft mitgereist?

Ich habe probiert, an möglichst viele Festivals zu reisen. Dadurch habe ich in den letzten Monaten viele Kurzfilme aus der ganzen Welt gesehen und die einzelnen Begegnungen dazu waren sehr inspirierend.

Reagiert das Publikum unterschiedlich auf den Humor in deinem Film oder finden die Zuschauer:innen immer dasselbe komisch?

Jedes Screening ist anders. Die Gespräche und das Feedback danach finde ich am interessantesten. Besonders aufgefallen ist mir, dass gewisse Details manchmal komplett untergehen und manchmal sehr genau verstanden werden. Was beispielsweise in der Schweiz, Deutschland oder der Türkei als komisch wahrgenommen wird, in Frankreich, Belgien oder Südkorea eher ernster und tragischer gelesen wird. Auch gewisse Szenen funktionieren ganz anders an verschiedenen Orten. Das war sehr spannend zu sehen.

«1:10» ist wie ein Wimmelbild, das von oben gezeigt wird und in das man immer wieder eintaucht. Stand die Idee aus der Vogelperspektive zu filmen von Anfang an fest?

Das Drehbuch habe ich mit dieser Idee geschrieben. Die Figuren sollten ihren individuellen Aufgaben und Problemen nachgehen, ohne den übergeordneten Zusammenhang der Geschichte zu erkennen. Dieser sollte den Zuschauenden vorbehalten bleiben, um die Absurdität und oft auch Sinnlosigkeit der Ereignisse zu unterstreichen. Immer wieder zoomen wir an einzelne Figuren heran, um diese näher zu verfolgen, gehen dann aber wieder von ihnen weg. Dabei ging es mir darum, das Wechselspiel zwischen Individuum und Kollektiv zu betonen. Die Auswirkungen von bestimmten Handlungen einzelner Personen auf eine Gesellschaft und das fehlende Verständnis für Perspektiven anderer standen im Mittelpunkt. Das symbolisiert auch der Titel 1:10. Die Zahl 10 repräsentiert das Kollektiv, die Gesellschaft als Ganzes, während 1 für das Individuum steht, das seinen Platz in diesem Gefüge sucht und Teil davon ist.

Was waren die besonderen Herausforderungen der Dreharbeiten?

Zusammen mit dem DOP Manuel Karel Seiler haben wir die Einstellungen und Abläufe ziemlich genau geplant. Vieles konnten wir aber nicht genau vorhersehen, denn es waren teilweise bis zu 150 Personen vor der Kamera. Vor dem Dreh mit den Statist:innen zu proben, war deshalb praktisch nicht möglich. Während dem Dreh mussten wir schnell und mit vielen Personen vor der Kamera auf räumliche Veränderungen reagieren und Anpassungen zu machen. Dabei war auch die Kommunikation mit Manuel nicht immer ganz einfach, weil er sich während dem Dreh auf dem Schulhof auf einer Hebebühne in etwa 15 Metern Höhe befand.

Wie hast du es geschafft, die vielen kleinen Geschichten zu einer grossen zu verknüpfen, ohne den Faden zu verlieren?

Die Hauptfigur des Filmes ist keine Person, sondern das Kollektiv. Es war mir sehr wichtig, mich auf eine Gesellschaft als Ganzes konzentrieren und die einzelnen Figuren in diesem Konstrukt sehen. Das Ziel war es, über Details und viele kleine Geschichten eine Gesamtheit abzubilden. Das hat die gesamte Narration stark beeinflusst. Was mich an Geschichten selbst oft am meisten interessiert, sind die kleinen Zwischentöne oder Bemerkungen von einzelnen Figuren, die aus meiner Wahrnehmung oft viel mehr erzählen als ein übergeordneter Plot.

Viele der kleinen Geschichten innerhalb des Films sind durch die Art und Weise entstanden, wie ich das Drehbuch geschrieben habe. Beispielsweise habe ich lange Gespräche mit meinem Vater über das reale Ereignis geführt und aufgenommen. Die meisten Dialoge sind aus eigenen Erinnerungen oder transkribierten Audioaufnahmen entstanden.

Für mich gab es zwei zentrale Handlungsstränge, die sich in der Thematik, die sie erzählen, widerspiegeln: Zum einen den Konflikt zwischen den beiden Söhnen, der sich auf die Väter und später auf alle Erwachsenen überträgt, und zum anderen den Konflikt zwischen der Kundin und der Angestellten, der sich auf die Kinder auswirkt. Beide Geschichten verbindet eine Kettenreaktion, die schlussendlich alle Personen vor Ort betrifft und zu einer Art von systematischem Kollaps der gesellschaftlichen Normen führt.

Kannst du uns etwas über Missgeschicke bei den Dreharbeiten verraten?

Grosse Missgeschicke gab es zum Glück keine, aber einen Zwischenfall, der zu einem glücklichen Zufall wurde. Während dem Dreh der Schlüsselszene, in der sich die beiden Väter streiten, gab es auf dem Schulhof zwei Kids, die auf einem E-Roller immer wieder extra ins Bild gefahren sind und den Drehablauf so gestört haben, dass wir mehrere Takes abbrechen mussten. Dann hatte die Idee, sie als Störfaktor einzubauen und im Schnitt stellte sich heraus, dass sie die chaotische Tonalität der Szene sehr gut unterstreichen.

Arbeitest du an neuen Filmprojekten?

Ich bin zurzeit in der Postproduktion eines langen Dokumentarfilms über verschiedene Personen in einem Alterszentrum, die wir während vier Jahren bis zu ihrem Tod begleitet haben. Ähnlich wie in 1:10 befasst sich der Film mit Themen rund um Identität, soziale Konstrukte und Konflikte in einem Mikrokosmos. Insbesondere hat mich dabei die Frage interessiert, wie ältere Menschen in dieser komplexen sozialen Struktur miteinander interagieren und wie Zugehörigkeit dabei eine Rolle spielt.

Zwei weitere Kurzfilme befinden ebenfalls in der Postproduktion. Ausserdem habe ich begonnen an einem Spielfilmprojekt zu schreiben, das sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Zukunftsvisionen auseinandersetzt.

Was erhoffst du dir von deiner Teilnahme am Future Frames?

Ich freue mich sehr auf die Filme der anderen Filmemacher*innen. Ich finde es immer sehr motivierend mich mit anderen Filmschaffenden auszutauschen und zu realisieren, dass viele ähnliche Erfahrungen machen. Ich hoffe auf interessante Gespräche, neue Ideen und vielleicht auch auf erste Kontakte für zukünftige Projekte.

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